Mini-Serie zum Stottern: Was ist Stottern?

Hanan Hurwitz
Bildung
January 20, 2025

Was ist Stottern?

Einleitung

Stottern ist eine sprachliche Besonderheit mit einer biologischen Ursache, die sich durch primäre und sekundäre Symptomatik äußert.

Hier beziehen wir uns speziell auf das entwicklungsbedingte Stottern, im Gegensatz zum erworbenen Stottern. Entwicklungsbedingtes Stottern beginnt in der Regel im Kindesalter und kann sich bei manchen Menschen bis ins Erwachsenenalter fortsetzen.

 

Primäre Symptome

Die primären Merkmale des Stotterns sind direkte Ausdrucksformen seiner biologischen Ursache. Dazu gehören:

Dehnungen, bei denen Laute in die Länge gezogen werden (fffffahren).

Wiederholungen, bei denen Silben oder Laute mehrfach wiederholt werden (fa-fa-fa-fahren).

Blockaden, bei denen zunächst gar kein Laut produziert wird. Diese werden auch als stille Blockaden bezeichnet.

 

Sekundäre Symptome

Zu den sekundären Merkmalen des Stotterns gehören Verhaltensweisen wie:

Körperliche Anspannung, die überall im Körper auftreten kann, z. B. eine angespannte Kiefer-, Nacken- oder Bauchmuskulatur.

Einschübe von Füllwörtern und Lauten, wie „ähm“, „äh“, „also“ oder „weißt du“.

Unwillkürliche Körperbewegungen, wie das Neigen des Kopfes, ruckartige Kopf- oder Handbewegungen oder tics-ähnliche Verhaltensweisen, die durch die Anspannung entstehen.

Verschiedene Formen der Vermeidung, z. B. Wortersetzungen, der Einsatz von Füllwörtern zur Umgehung eines Stottermoments, Vermeidung von sozialen Interaktionen oder sogar das bewusste Schweigen.

Stottern und der Kampf gegen das Stottern

Der Schlüssel zum Verständnis des Stotterns liegt darin, zwischen dem Stottern selbst und dem Kampf gegen das Stottern zu unterscheiden.

Die sekundären Merkmale sind eine Folge dieses Kampfes – sie entstehen, weil wir versuchen, unser Stottern zu vermeiden oder zu verbergen. Und all diese Versuche, das Stottern zu vermeiden, resultieren aus der gesellschaftlichen Stigmatisierung des Stotterns.

In fast allen Fällen von sogenanntem „schweren“ Stottern kommt die Schwere nicht vom Stottern selbst, sondern vom Kampf dagegen. Das bedeutet jedoch nicht, dass dieser Kampf das Stottern immer verschlimmert – aber er verstärkt die Auswirkungen auf unser Leben.

Es ist daher entscheidend, den Unterschied zwischen primären und sekundären Merkmalen zu verstehen, denn:

- Nur wenn wir verstehen, was passiert, können wir damit richtig umgehen.

- Wenn wir das Problem falsch identifizieren (sofern es überhaupt eines gibt), suchen und erhalten wir möglicherweise eine unpassende Behandlung, die das Problem nicht löst.

- Um unser Leiden zu lindern, müssen wir wissen, warum wir leiden.

Die biologische Grundlage des Stotterns

Forschungen zeigen, dass Stottern eine biologische Ursache hat [1]. Menschen stottern, weil sie eine neurophysiologische Besonderheit haben, die die zeitliche Koordination und den Start des Sprechens beeinflusst.

- Es gibt funktionelle und strukturelle neurologische Unterschiede zwischen den Gehirnen von stotternden (PWS) und nicht-stotternden Menschen.

- Es gibt genetische Faktoren, die mit Stottern in Verbindung stehen. Das bedeutet jedoch nicht, dass Stottern zwingend vererbt wird – auch wenn es in manchen Familien über Generationen hinweg auftritt.

- Neurochemische Prozesse spielen eine Rolle. Studien haben gezeigt, dass Dopamin mit Stottern in Verbindung steht [2].

Wichtig ist: Diese neurologischen Unterschiede betreffen ausschließlich das Sprechen – nicht die kognitiven oder anderen Fähigkeiten von Menschen, die stottern.

Statistik

Etwa 5 % der Vorschulkinder durchlaufen eine Phase des Stotterns. Bei 75–80 % dieser Kinder verschwindet es wieder [3]. Der Grund dafür ist noch nicht ganz geklärt, aber möglicherweise spielt Neuroplastizität eine Rolle.

• Es wird allgemein angenommen, dass etwa 1 % der Erwachsenen stottert [4], wobei Daten aus Großbritannien von 2021 sogar 2 % angeben [5].

• Das Verhältnis von Männern zu Frauen mit Stottern beträgt ungefähr 4:1, d. h. vier von fünf Stotternden sind Männer [6].

• Stottern tritt in allen Ländern, allen Sprachen und allen Kulturen auf [7].

Unterschied, kein Defekt

Es ist von größter Bedeutung zu verstehen, dass Stottern eine Sprach- oder Kommunikationsvariante ist – kein Defekt [8]. Diese Erkenntnis bestimmt, wie wir mit Stottern und mit stotternden Menschen umgehen sollten. Das Problem ist nicht das Stottern selbst, sondern unsere Einstellung dazu. Das eigentliche Problem sind das soziale Stigma und die Vorurteile gegenüber stotternden Menschen.

Die Rolle der Zuhörer

Einfach zuhören. Konzentriere dich darauf, was gesagt wird, anstatt wie es gesagt wird. Vermeiden Sie es, Ratschläge z, wie „Sprich langsamer“ oder „Atme einfach tief durch“. Solche gut gemeinten Ratschläge sind nicht hilfreich – im Gegenteil, sie können eher hinderlich sein.

1. Vervollständigen Sie keine Wörter oder Sätze für die Person. Lassen Sie sie ausreden, egal wie lange es dauert.

2. Falls Sie etwas nicht verstehen, fragen Sie nach.

 

Einige verbreitete Mythen über Stottern

• Stottern wird nicht durch emotionale oder psychologische Probleme verursacht und ist keine psychische Erkrankung.

• Stottern hat nichts mit Intelligenz zu tun.

• Stottern ist nicht auf mangelndes Selbstvertrauen oder geringes Selbstwertgefühl zurückzuführen.

• Stottern wird nicht durch Stress verursacht.

• Aber Zeitdruck und Stress können Stottern verstärken.

• Stottern ist nicht die Folge eines Kindheitstraumas.

• Allerdings kann ein Trauma ein Auslöser für Stottern sein, wenn eine physiologische Veranlagung besteht.

• Stottern definiert eine Person nicht es ist lediglich ein Teil von ihr.

 

Literaturverweise

[1] Knowns and unknowns about the neurobiology of stuttering; https://journals.plos.org/plosbiology/article?id=10.1371/journal.pbio.3002492

[2] The Stuttering Mind; Scientific American, August 2021; https://www.scientificamerican.com/article/stuttering-stems-from-problems-in-brain-wiring-not-personalities/

[3] A Handbook on Stuttering; Bloodstein, Bernstein Ratner and Brundage; Seventh Edition; Summary Remarks on the Demography of Stuttering

[4] A Handbook on Stuttering; Bloodstein, Bernstein Ratner and Brundage; Seventh Edition; Summary Remarks on the Demography of Stuttering

[5] Stamma.org; https://stamma.org/features/how-many-adults-stammer

[6] A Handbook on Stuttering; Bloodstein, Bernstein Ratner and Brundage; Seventh Edition; The Sex Ratio

[7] A Handbook on Stuttering; Bloodstein, Bernstein Ratner and Brundage; Seventh Edition; Stuttering in Other World Communities

[8] Stammering Pride and Prejudice: Difference not Defect; https://www.jr-press.co.uk/product/stammering-pride-prejudice/

Der Autor

Hanan Hurwitz ist selbst Stotterer und ehemaliger Vorsitzender sowie Geschäftsführer von AMBI, der Israelischen Stottervereinigung. Er hält zahlreiche Vorträge übers Stottern und setzt sich entschlossen dafür ein, dass jeder Stottern besser versteht, um die Barrieren zu überwinden, die das weitverbreitete Stigma rund um das Stottern der Gesellschaft im Allgemeinen und stotternden Menschen sowie ihren Familien im Besonderen auferlegt.
Er spielte eine entscheidende Rolle bei der Organisation von Stotterkonferenzen und war Teil des Teams, das die jährliche Online-Konferenz zum Internationalen Stotterbewusstseinstag kuratiert.

Hanan ist Autor des Buches „Stuttering: From Shame and Anxiety to Confident Authenticity“. Informationen zum Buch sowie ein kostenloser Kapitel-Download sind auf OnStuttering.com verfügbar.

Von Beruf ist Hanan studierter Elektronikingenieur. Seit 2019 arbeitet er als unabhängiger Berater für Qualitäts- und Regulierungsmanagement.

Seine größten Interessen sind das Studium der buddhistischen und stoischen Philosophie, Blues-Gitarrenmusik, Lesen – und natürlich das Stottern.

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