Mini-Serie Stottern: Stigmatisierung & Stottern
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Stigmatisierung und Stottern
Öffentliche Stigma
In unserer Gesellschaft existieren zahlreiche vermeintliche Probleme, die – sobald wir ihnen Glauben schenken – erhebliches Leid verursachen. Eines dieser Probleme ist das Stigma – die Neigung, andere auf Grundlage von Eigenschaften zu bewerten, die wir als unangenehm oder unerwünscht empfinden. Stigma führt zu Diskriminierung. Diskriminierung wiederum führt zu Marginalisierung und in gewissem Maße zu Unterdrückung derjenigen, die diesem Stigma ausgesetzt sind. Es gibt unzählige menschliche Merkmale, die gesellschaftlichem Stigma und Diskriminierung unterliegen, wie Hautfarbe, Körperform, sexuelle Orientierung und Identität, kultureller Hintergrund und Behinderungen. Diese absurde Diskriminierung zieht sich durch unsere Gesellschaft, verursacht Leid, Ungerechtigkeit und in vielen Fällen sogar den Tod betroffener Menschen.
Man kann öffentliches Stigma als eine Manifestation der negativen Reaktionen der Gesellschaft gegenüber Menschen verstehen, die als „anders“ wahrgenommen werden – von jenen, die sich das Recht herausnehmen, festzulegen, was „normal“ und was in der menschlichen Vielfalt „akzeptabel“ ist.
Das Stigma des Stotterns
Stottern ist eines der menschlichen Merkmale, die mit einem Stigma behaftet sind. Menschen, die stottern, müssen täglich mit negativen Urteilen anderer umgehen, während sie (manchmal) kämpfen, um sich verständlich zu machen [1]. Kinder, die stottern, werden in der Schule häufig gemobbt, und Erwachsene, die stottern, erleben oft Diskriminierung am Arbeitsplatz [2] sowie soziale Zurückweisung. Das Ergebnis ist, dass viele Menschen, die stottern, im Leben mit großen Herausforderungen konfrontiert sind – weit über die Schwierigkeit hinaus, flüssig zu sprechen [3].
Selbststigma
Wenn wir öffentlichem Stigma ausgesetzt sind, kann es passieren, dass wir beginnen zu glauben, dass wir aufgrund unserer Unterschiede minderwertig sind. In diesem Fall akzeptieren wir das öffentliche Stigma, verinnerlichen die Botschaft – und das wird zum Selbststigma.
Der gesellschaftliche Druck, dass unser Unterschied „nicht akzeptabel“ sei, verwandelt sich in eine innere Überzeugung:
“Ich bin nicht akzeptabel, so wie ich bin.”
Wir beginnen, uns selbst als minderwertig zu sehen – und schlimmer noch, wir glauben es. Wenn das öffentliche Stigma vermittelt, dass eine bestimmte Eigenschaft unerwünscht ist, führt die Verinnerlichung dieser Botschaft dazu, dass wir, die wir diese Eigenschaft besitzen, uns für unwürdig halten. Wenn wir glauben, dass wir nicht würdig sind, entsteht eine massive innere Hürde, die uns daran hindert, das Leben zu führen, das wir für uns selbst wollen. In Bezug auf Stottern äußert sich Selbst-Stigma oft in tiefen Überzeugungen, dass wir „fehlerhaft“ sind, weil die Gesellschaft uns sagt, dass Stottern ein „Fehler“ ist. Diese negativen Überzeugungen über uns selbst können zu einschränkenden Gedanken und selbstbegrenzendem Verhalten führen: Ein Schulkind, das stottert, könnte vermeiden, sich im Unterricht zu beteiligen [4]. Ein Erwachsener, der stottert, könnte soziale Kontakte oder bestimmte Karrierewege meiden.
Diese Vermeidung geschieht aus Angst vor Spott und Ablehnung – eine Angst, die direkt aus dem Stigma des Stotterns entsteht. Eine mögliche Folge davon ist die Entwicklung einer sozialen Angststörung, die tatsächlich mit der Erfahrung des Stotterns in Verbindung gebracht wurde [5].
Das Problem ist nicht das Problem selbst
In Fluch der Karibik wird Captain Jack Sparrow das Zitat zugeschrieben:
“Das Problem ist nicht das Problem. Das Problem ist deine Einstellung zum Problem.”
Das Problem beim Stottern ist nicht das Stottern selbst, sondern die gesellschaftliche Einstellung dazu. Das eigentliche Problem ist das Stigma – nicht das Stottern. Das eigentliche Problem ist der Kampf gegen das Stottern – nicht das Stottern selbst. Und dieser Kampf entsteht direkt als Folge des Stigmas.
Stottern ist ein natürlicher Ausdruck menschlicher Vielfalt, während Stigma eine mentale Erfindung ist. Es ist daher nur logisch, zu erkennen, dass wir als Gesellschaft das Problem „Stottern“ erfunden haben – und wir können uns einfach entscheiden, nicht mehr an diese Erfindung zu glauben.
Es gibt kein Naturgesetz, das besagt, dass Stottern ein Problem ist, oder dass ein Mensch nicht stottern sollte – genauso wenig wie es ein Naturgesetz gibt, das besagt, dass eine andere körperliche oder emotionale Eigenschaft oder Behinderung ein Problem sei. Diese Eigenschaften existieren einfach – die Entscheidung liegt in unserer Wahrnehmung und damit in unserer Reaktion darauf. Wir können und wir sollten uns entscheiden, das Stigma des Stotterns abzulehnen. Dann können wir das Leiden beenden – und den Heilungsprozess beginnen. Es ist wirklich eine einfache Entscheidung
Literaturverweise
[1] Stuttering Meets Stereotype, Stigma, and Discrimination: An Overview of Attitude Research; Edited by Kenneth O. St.Louis
[2] Stuttering and Labor Market Outcomes in the United States; Gerlach, Totty, Subramanian, & Zebrowski; Journal of Speech, Language, and Hearing Research Volume 61, Number 7; https://doi.org/10.1044/2018_JSLHR-S-17-0353
[3] Stammering Is Still The Unacceptable Face of Disability; https://www.huffingtonpost.co.uk/entry/stammer-stutter_uk_5ba7f198e4b0fc9c379c100c
[4] Concealing Stuttering at School: “When You Can't FixIt…the Only Alternative Is to Hide It”; Gerlach-Houck, Kubart, & Cage; Language, Speech, and Hearing Services in Schools Volume 54, Number 1; https://doi.org/10.1044/2022_LSHSS-22-00029
[5] Social anxiety disorder and stuttering: Current status and future directions; Iverach and Rapee; Journal of Fluency Disorders Volume40; https://www.sciencedirect.com/science/article/pii/S0094730X13000648
Der Autor
Hanan Hurwitz ist selbst Stotterer und ehemaliger Vorsitzender sowie Geschäftsführer von AMBI, der Israelischen Stottervereinigung. Er hält zahlreiche Vorträge übers Stottern und setzt sich entschlossen dafür ein, dass jeder Stottern besser versteht, um die Barrieren zu überwinden, die das weitverbreitete Stigma rund um das Stottern der Gesellschaft im Allgemeinen und stotternden Menschen sowie ihren Familien im Besonderen auferlegt.
Er spielte eine entscheidende Rolle bei der Organisation von Stotterkonferenzen und war Teil des Teams, das die jährliche Online-Konferenz zum Internationalen Stotterbewusstseinstag kuratiert.
Hanan ist Autor des Buches „Stuttering: From Shame and Anxiety to Confident Authenticity“. Informationen zum Buch sowie ein kostenloser Kapitel-Download sind auf OnStuttering.com verfügbar.
Von Beruf ist Hanan studierter Elektronikingenieur. Seit 2019 arbeitet er als unabhängiger Berater für Qualitäts- und Regulierungsmanagement.
Seine größten Interessen sind das Studium der buddhistischen und stoischen Philosophie, Blues-Gitarrenmusik, Lesen – und natürlich das Stottern.
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E-Mail: Hanan.hurwitz@gmail.com
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